aus: NEUROvision, Neurologie verstehen, Februar 2015, Jahrgang 10
Im folgenden Interview beantwortet Dr. Claudia Berner Fragen der NEUROvision-Redaktion zu Depressionen bei Kindern und Jugendlichen.
Frau Dr. Berner, wann muss man mit einem Kind zum Arzt oder Psychiater?
Es kommt sehr auf die Symptome an. Gereiztheit und Schlafstörungen treten oftmals passager auf und sollten erst einmal beobachtet werden. Ich würde das aber immer auch von der Intensität der Symptome und vom Leidensdruck der Kinder abhängig machen. Wenn ein Kind ganz offensichtlich leidet, sollte man schnellstmöglich Hilfe suchen. Ein Kind, das wiederholt selbstverletzendes Verhalten zeigt, sollte auf jeden Fall in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt werden.
Schicken Sie besorgte Eltern mit ihrem Kind auch schon mal wieder nachhause?
Manchmal sage ich, da würde ich erstmal in Ruhe abwarten… Grundsätzlich bin ich aber sehr dankbar, wenn Eltern rechtzeitig kommen. Zum Glück hat sich das sehr verändert. Manchmal kommen Eltern, die sich getrennt haben und die unsicher sind, wie das Kind damit zurecht kommt, mit der Bitte nach einer fachärztlichen Meinung. Vor allem in der Stadt gibt es eine große Offenheit der Eltern.
Erleben Sie auch die überbesorgten, ständig um das Kind kreisenden Eltern?
Nein, die sogenannten Helikoptereltern erlebe ich hier nicht. Grundsätzlich: Wir haben hier ein breites Spektrum von Patienten aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Und ich sehe hier viel Leid und Betroffenheit. Jenseits der Helikoptereltern – ich finde, es ist etwas ganz Verantwortungsvolles und Schönes, wenn Eltern sich sorgen und sich extern Hilfe suchen, weil sie unsicher sind.
Die Zahl der diagnostizierten Depressionen bei Kindern und Jugendlichen steigt. Liegt das vor allem daran, dass dies früher erkannt wird?
Es gilt als gesichert, dass die Diagnose heute besser gestellt werden kann als früher. Alle sind aufmerksamer. Und aufgeklärter. Die Eltern, die Lehrer, die Kinderärzte. Es gibt heute Fragebögen zur Suizidprophylaxe. Man darf nicht vergessen, dass Suizid bei Jugendlichen zur zweithäugfigsten Todesursache gehört. In der Fachwelt geht man übrigens davon aus, dass immer noch 50% der Kinder und Jugendlichen mit Depressionen unbehandelt sind.
Welchen Einfluss hat die genetische Disposition bei Depressionen?
Kinder, deren Eltern depressiv sind, sind bis zu viermal häufiger betroffen. Manchmal ist es auch so, dass die Eltern durch das Vorleben dazu beitragen. So etwa, wenn sie sich selbst schwer motivieren können. Aber es gibt auch eine genetische Disposition. Wenn ein bestimmtes Allel verkürzt ist, dann ist das Risiko, eine Depression zu entwickeln größer. Man kann heute auch ganz klar sehen, dass bestimmte Lebensereignisse die Biochemie im Gehirn verändern. Dies kann dazu führen, dass auf der sogenannten HPA-Stressachse Veränderungen entstehen. Dadurch entstehen im Gehirnstoffwechsel Dysbalancen.
Während das eine Kind etwa die Trennung der Eltern oder den Umzug mit Schulwechsel einigermaßen locker wegsteckt, löst derselbe Umstand bei einem anderen Kind eine Krise aus.
Das hängt zum Einen sicher mit der allgemeinen Konstitution des Kindes zusammen, zum anderen aber auch damit, wie die Eltern damit umgehen. Wird z.B. vor dem Kind immer wieder über den anderen Elternteil geschimpft, gerät das Kind in einen Loyalitätskonflikt, der die Situation unerträglich macht. Die Realität ist nach außen nicht immer sichtbar. Selbst wenn Eltern offenbar entspannt damit umgehen, heißt das nicht unbedingt, dass dies auch in den eigenen vier Wänden immer der Fall ist. In Bezug auf einen Umzug oder Schulwechsel, ist das manchmal auch Glück: Glück mit dem Lehrer, Glück mit bestimmten Mitschülern. Es sind immer multifaktorielle Ursachen.
Muten wir unseren Kindern manchmal zu viel zu?
Man weiß inzwischen aus einer großen Studie, wie irritierend Umzüge für Kinder sind. Entgegen der allgemeinen Annahme, dass es für jüngere Kinder nicht so dramatisch sei, weiß man heute, dass es gerade die Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter sind, die sehr auf eine Regelmäßigkeit auch bzgl. des Umfelds angewiesen sind. Das haben wir lange unterschätzt.
Welche Rolle spielt die Gesellschaft, der Leistungsdruck, die unsichere Zukunft?
Ich habe dazu keine aktuellen Studien. Gefühlt würde ich sagen, dass die Kinder und Jugendlichen sich heute viel mehr Gedanken machen, sie planen viel weiter in die Zukunft rein, sorgen sich „kann ich hiermit oder damit später etwas werden?“
Und die Tatsache, dass Kinder früher in die Pubertät kommen?
… spielt auf jeden Fall eine Rolle. Zumindest wenn es um die steigenden Zahlen geht. Denn der frühere Eintritt in die Pubertät führt dazu, dass das Hauptmanifestationsalter für Depressionen gesunken ist. Es liegt heute bei 14 Jahren. Früher lag es bei etwa 16. Ab 18 rutschen die Jugendlichen in die Erwachsenenmedizin. Das bedeutet, dass man die Jugendlichen, die früher eine Depression entwickelten, weniger in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesehen hat
Welche Rolle spielen die digitalen Medien? Die Jugendlichen sind heute beinahe rund um die Uhr auf Empfangsbereitschaft gestellt.
Diese permanente Erreichbarkeit bedeutet ganz klar Stress. Was den Jugendlichen in Bezug auf digitale Medien aber vor allem zusetzt, ist neben Bewegungsmangel und Rückzug, vor allem Mobbing. Auch die Tatsache, dass man ständig mitbekommt, was die anderen gerade machen oder gemacht haben. Ein Bild oder Status kann zeigen, ob man dazu gehört oder nicht. Dasselbe gilt für bestimmte Gruppen in Netzwerken. Mitunter werden Jugendliche aber auch direkt in Chaträumen gemobbt. Das ist in der Praxis immer wieder ein Thema.
Was ist mit Computerspielen, virtuellen Welten?
Wenn ein Kind sich im Rahmen einer möglichen Depression zurückzieht und in virtuelle Welten flieht, muss man aufmerksam werden. Hier müssen die Eltern Grenzen setzen. Die Kinder und Jugendlichen können das nicht alleine. Es müssen Zeiten festgelegt werden, ggf. müssen Kabel weggenommen werden. Ein weiteres und zuweilen unterschätztes Problem ist, dass sich im Netz auch Depressive finden und gegenseitig runterziehen. Es gibt sogar Seiten, auf denen ein Austausch stattfindet, welche Gebäude sich für einen Suizid eignen. Der Besuch solcher Seiten ist für Menschen mit Depressionen hochgradig gefährlich. Grundsätzlich gehört in Gruppen mit Depressiven ein Therapeut.
Wie behandelt man Kinder mit Depressionen?
Bei jüngeren Kindern greifen spieltherapeutische und/oder heilpädagogische Angebote. Das kann auch so aussehen, dass ein sozialpädagogischer Betreuer zur Familie nachhause kommt. Manchmal brauchen auch die Eltern eine Therapie oder ein Coaching. Bei uns in der Praxis gibt es Kunst- und Tanztherapie. Darüber hinaus profitieren viele Kinder und Jugendliche von einer Einzelpsychotherapie. Auch Sport ist sehr hilfreich, da Bewegung positiv auf Botenstoffe im Gehirn wirkt. Entspannungsverfahren, wie autogenes Training oder Yoga können ebenfalls helfen.
Bekommen manche Kinder Antidepressiva?
Die erste Wahl ist immer Psychotherapie. Die meisten Kinder brauchen keine Medikamente. Wenn es aber nicht anders geht: Das einzige seit Sommer 2006 für Kinder ab 8 Jahren zugelassene Antidepressivum ist Fluoxetin. Manchmal muss man offlabel behandeln. Es kommt immer auch auf die Symptome, den Entwicklungsstand und das Alter der Kinder an. Und darauf, ob das Kind nicht mehr im Alltag integriert ist. Ein Drittel der Betroffenen hat erst eine Angststörung und entwickelt dann eine Depression. Manche schaffen es nicht mehr, zur Schule zu gehen. Dann können Medikamente sinnvoll sein.
Welche Nebenwirkungen haben diese?
Anfangs können manchmal leichte Kopf- und Bauchschmerzen entstehen. Manchmal verändert sich der Blutdruck. Meist sind die Medikamente aber gut verträglich. Es gibt Antidepressiva, die die Libido beeinträchtigen können. Interessant ist, dass diese Nebenwirkung unter acht Prozent bleibt, wenn sie unbekannt bleibt. Bei unter 18-jährigen frage ich daher manchmal, ob es ausreicht, wenn ich die Eltern über mögliche Nebenwirkungen informiere. Ich erkläre dann, dass das Wissen darüber in 30 % der Fälle dazu führt, dass die Nebenwirkung eintritt.
Man hört immer wieder von Gewichtszunahme durch Antidepressiva?
Es gibt einige Medikamente, die den Appetit sehr stark anregen. Diese werden z.B. bei Jugendlichen offlabel eingesetzt, wenn massive Schlafstörungen vorliegen. Die Medikamente sind sehr wirksam insofern, dass die Integration im Alltag wieder gut funktioniert. Allerdings führt die Tatsache, dass das Gewicht steigt, gerade bei jungen Mädchen zu einer schlechten Compliance (Therapietreue)
Besteht keine Suchtgefahr?
Nein. Es besteht keine Suchtgefahr. Wenn Jugendliche Psychopharmaka bekommen und abends feiern wollen? Natürlich steht im Beipackzettel, dass kein Alkohol konsumiert werden darf. Auch ich dürfte es ärztlicherseits nicht erlauben. In der Realität ist es aber so, dass Jugendliche sich nicht daran halten. Es ist mir lieber, dass meine Patienten mit mir offen darüber reden. Wichtig ist, dass sie wissen, dass der Alkohol durch die Antidepressiva schneller wirkt. Wenn ein jugendlicher Patient aber anfängt, regelmäßig zu trinken, dann haben wir neben der Depression noch eine weitere Diagnose, nämlich ein Suchtproblem, dass angegangen werden muss.
Wie lange können Antidepressiva genommen werden?
Es gibt heutzutage sehr gute nebenwirkungsarme Antidepressiva, die man über sehr lange Zeiträume nehmen kann. Man muss immer die Lebensqualität im Blick haben. Wenn ein junger Mensch, ständig in Angst lebt und nicht im Alltag integriert ist, dann beeinträchtigt das aus meiner Sicht mehr als die Einnahme eines Medikaments. Man kann zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder die Dosis herab- oder das Medikament ganz absetzen.
Ist es manchmal schwierig, einen depressiven Teenager mit zum Therapeuten zu bekommen?
Das ist ein Problem und kann dazu führen, dass man manche Kinder und Jugendliche nicht erreicht. Manchmal macht es Sinn, Familienhelfer mit ins Boot zu holen, die unterstützend tätig werden können. Sofern ein Jugendlicher massiv suizidgefährdet und gleichzeitig nicht absprachefähig ist, kann eine stationäre Therapie erforderlich sein.
Auch gegen den Willen des Jugendlichen?
Eine stationäre Unterbringung mit Gerichtsbeschluss ist selten. Kommt aber vor. Es ist immer das therapeutische Ziel, daran zu arbeiten, dass der Jugendliche etwas aus eigener Motivation tut.
Einmal depressiv, immer depressiv?
Bei 50 % der Kinder und Jugendlichen sehen wir eine Remission innerhalb eines Jahres. In der Regel ohne Medikamente. Bei den anderen bleibt die Depression bis ins Erwachsenenalter bestehen. Das heißt, dass die Betroffenen immer mal wieder eine Symptomatik haben und zwischendurch ggf. auch mal eine Behandlung brauchen.
Frau Dr. Berner, ich danke Ihnen für das Gespräch.
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