Schatten der Vergangenheit: Traumata

„Die Kinder wirken wie abgeschaltet.”

Die Behandlung traumatisierter Kinder gehört zur täglichen Arbeit von Dr. Claudia Berner, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Hamburg-Bahrenfeld. Im Gespräch mit dem BLICKPUNKT PFLEGEKINDER erzählt sie, woran Traumata zu erkennen sind und was zu Retraumatisierungen führen kann.

BLICKPUNKT: Es gibt Fälle, in denen weder Jugendamt noch Pflegeeltern wissen, welche traumatisierenden Erfahrungen das Kind vorher gemacht hat. Woran  können Pflegeeltern erkennen, dass ihr Kind traumatisiert ist?

DR. CLAUDIA BERNER: Wenn ein Kind traumatisiert ist, dann hat es Erfahrungen gemacht, die so überwälti­gend waren, dass sie nicht ausreichend verarbeitet werden konnten. Es gibt zwei Phänomene, die sich bei diesen Kindern häufig beobachten lassen: das eine ist eine starke Ãœbererregung, das andere ist das Gegenteil – eine Untererregung, die wir „freeze” nennen. Das Kind wird ganz starr. Oft entwickeln traumatisierte Kinder auch Aufmerksamkeitsstörungen oder Dissoziationen: eine Zerstörung der Wahrnehmung. Dissoziation verhindert Erkenntnis. Die Realität in ihrer Wahrnehmung zerfällt wie ein zersplit­terter Spiegel. Sie erkennen nicht mehr das ganze Bild sondern nur noch einzel­ne Elemente davon und können diese nicht zusammenbringen. Zum Beispiel, dass der Vater, mit dem sie frühstücken, derselbe ist, der nachts traumatisierend war.

BLICKPUNKT: Wie wirken sich Über­- bzw. Untererregung aus?

DR. CLAUDIA BERNER: Die Kinder können mit massiven Aggressionen reagieren, mit Störung des Sozialverhaltens, damit, dass sie in der Schule nicht zurechtkommen, eine ständige Unruhe in sich tragen. Aber die Zustände wechseln bei den Kindern auch: Wenn sie traumatisiert oder an traumatisierende Erfahrungen erinnert werden, sind sie ganz aufgeregt und können sich nicht mehr angemessen verhalten – oder sie „frieren” ein:
Die Kinder wirken wie abgeschaltet. Sie können auch schnell vom einen zum anderen Zustand wechseln – daran erkenne ich häufig Traumatisierungen.

BLICKPUNKT: Was kann bei Umgangskontakten Retraumatisierung beim Kind auslösen?

CLAUDIA BERNER: Zunächst einmal dann, wenn Eltern während der Umgangskontakte noch Gewalt zufügen. Es muss vor solchen Kontakten ausgeschlossen sein, dass Eltern weiter traumatisieren. Eine Retraumatisierung beim Kind kann auch ausgelöst werden, wenn es beim Umgangskontakt an Orte zurückkehrt, an denen es in der Vergangenheit zu heftigen Übergriffen oder Gewalt gekommen ist – das kann eine Affektüberflutung auslösen. Da kommen dann in dem Kind die alten Erinnerungen wieder hoch. Wir nennen
das „triggern” – sie werden von den alten Affekten, von den Gefühlen von damals überflutet, weil es beim früheren Erleben noch nicht ganzheitlich verarbeitet werden konnte und der Körper Vergangenheit und Gegenwart noch nicht so gut auseinander halten kann.

BLICKPUNKT: Sind denn solche Traumata behandelbar?

CLAUDIA BERNER: Ja, das ist das Ziel einer Traumabehandlung, dass die Kinder in die Lage versetzt werden, solche Situationen aufzulösen, also zu erkennen, dass sie nicht mehr in Gefahr sind. Aber unbedingte Voraussetzung für eine Traumatherapie ist, dass sich das Kind in Sicherheit befindet –  sonst ist keine Traumaarbeit möglich. Und dann richtet es sich nach dem Alter des Kindes, wie gearbeitet wird. Das kann spielerisch sein: Also, das Kind zeigt beim Spielen, was es erlebt hat. Darüber kann man mit dem Kind Erfahrungen korrigieren, indem viel erklärt wird und neue Beziehungsangebote gemacht werden. Und es gibt EMDR, ein Therapieverfahr­en, bei dem es tun eine bilaterale Stimulation geht, also abwechselnd die rechte und linke Gehirnhälfte angespro­chen wird. Damit können Sie frühere Erfahrungen des Kindes in seine Wahrnehmung integrieren. Das geht bei kleineren Kindern, indem sie die trauma­tischen Szenen spielen. Bei größeren Kindern hilft es, wenn sie diese Szenen erzählen. Dann können sie die Affektüberflutung durch die bilaterale Stimulation beruhigen. Ich merke, dass die Symptome mit der Zeit zurückgehen – aber in der Regel ist das ein langer Prozess. Der kann Jahre dauern.

BLICKPUNKT: Wie können Pflege­eltern diesen Prozess unterstützen?

CLAUDIA BERNER: Erst einmal ist wichtig, dass sie die Kinder gut beruhigen können, den Kindern Sicherheit geben und ein zuverlässiges Beziehungs­angebot machen. Bei den leiblichen Eltern ist vor den Umgangskontakten zu überprüfen, ob sich ihre Feinfühlig­keit im Umgang mit dem Kind verbes­sert hat. Können sie dem Kind eine ande­re Interaktion anbieten? Was brauchen die Eltern, um richtig mit ihren Kindern umzugehen?

BLICKPUNKT: Wenn davon nicht sicher auszugehen ist, sollten dann Umgangskontakte von einer Fach­kraft begleitet werden?

CLAUDIA BERNER: Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass es nicht ausreicht, wenn irgendeine Fachkraft dabei ist. Das Kind muss an diese Fachkraft sicher gebunden sein. Es geht ja darum, dem Kind, das sich durch den Kontakt in Aufregung befindet, emo­tionale Sicherheit zu geben.

BLICKPUNKT: Wie lassen sich Umgangskontakte vorbereiten, um schon im Vorfeld retraumatisierende Erfah­rungen für das Kind zu vermeiden?

CLAUDIA BERNER: Also zunächst einmal müssen die Fachkräfte überprüfen, ob die Sicherheit des Kindes gewährleistet ist. Können die Eltern für­sorglich mit dem Kind umgehen und ihm ein Beziehungsangebot machen? Dann muss geklärt werden, welcher Ort geeig­net ist, und ob noch jemand außer Eltern und Kind dabei sein sollte. Wenn das alles bedacht worden ist, sollte der Kontakt mit dem Kind vorbereitet werden, indem man mit ihm darüber spricht. Wichtig sind Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit die­ser Kontakte. Grundsätzlich gilt: lieber kurze, gute als lange, schlechte Treffen mit den leiblichen Eltern. Und es ist wichtig, mit den Kindern rund um den Kontakt ein Ritual zu entwickeln.

BLICKPUNKT: Gibt es einen Punkt, an dem Sie zum Abbruch von Um­gangskontakten raten?

CLAUDIA BERNER: Wenn ich beobachte, dass durch die Umgangskon­takte wieder alte Symptome beim Kind massiv und über einen längeren Zeitraum auftreten, wie ein starker Leistungsabfall in der Schule oder schwere dissoziative Zustände, bei denen das Kind z.B. kurz­zeitig nicht ansprechbar ist, oder Einnäs­sen oder Panikzustände, dann empfehle ich den Abbruch der Kontakte.

Das Interview führte RALF PORTUGALL